Smartphones, Tablets, Computer: Die intensive Nutzung digitaler Geräte hat in der westlichen Welt das Leben in den letzten beiden Jahrzehnten nachhaltig verändert. Das betrifft auch Kinder und Jugendliche. Derzeit wächst die erste Generation heran, die ihre Pubertät mit digitalen Geräten als Begleiter erlebte – manche bereits ihre Kindheit.
Das ist in Summe negativ für ihre Entwicklung, stellt der Sozialpsychologe Jonathan Haidt fest. Er erforscht mit seinem Team Hintergründe und Auswirkungen digitaler Geräte auf Psyche und Zusammenleben. Ein besonderes Anliegen sind ihm dabei Kinder und Jugendliche.
Der Professor der New York University aus den USA veröffentlichte im Jahr 2024 das Buch „Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“. Bereits jetzt Bestseller, wurde es in viele Sprachen übersetzt und ist nun auch auf Deutsch erhältlich. Auch in der VIVID-Bibliothek kann es entlehnt werden.
Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen
Haidt liefert Zahlen für einen deutlichen Anstieg psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Dieser ist in allen westlichen Ländern beobachtbar und nicht durch die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine oder andere Ereignisse mit globalen Folgen erklärbar.
Es begann bereits viel früher. Zwischen 2010 und 2015 zeigen Statistiken einen deutlichen Anstieg an Depressionen, Angsterkrankungen und Selbstverletzungen von Jugendlichen. Das zeigte sich in vielen Ländern parallel und hält sich seither konstant.
Smartphones, Soziale Medien, Selfie-Kultur
Kurz davor begannen technologische und mediale Entwicklungen Einzug in den Alltag vieler Menschen zu halten. Besonders drei Neuerungen prägten die frühen 2010er Jahre: Smartphones, Social-Media-Plattformen und die Selfie-Kultur. Das erste internetfähige Mobiltelefon („Smartphone“) kam 2007 auf den Markt. Eine umfassende Verbreitung fand diese Technologie erst ab Beginn der 2010er Jahre.
Charakteristisch ist seit damals auch, dass das Telefon zusätzlich zum Internet mit einem Fotoapparat ausgestattet ist. Das ermöglicht und begünstigt sowohl das Befüllen von Sozialen Medien als auch die Selfie-Kultur.
Die plausibelste Erklärung für den deutlichen Anstieg psychischer Erkrankungen, so Haidt und sein Co-Autor Zach Rausch, ist die weitverbreitete Nutzung von Smartphones in Kombination mit sozialen Netzwerken unter Kindern und Jugendlichen ab den frühen 2010er Jahren. Dies sei der Start einer komplexen Umstellung von Kindheit und Jugend gewesen.
Komplexe Umstellung der Kindheit
Millionen Jahre hatten Kinder während ihrer Kindheit vor allem gespielt. Sie lernten die Welt im Spiel und im direkten Kontakt mit Menschen kennen. Die Autoren nennen dies die „spiel-basierte Kindheit“.
Durch die Verbreitung von Smartphones in Kombination mit sozialen Netzwerken und Selfies wurde diese „spiel-basierte Kindheit“ zusehends zu einer „Smartphone-basierten Kindheit“.
Erfahrungsraum auf Smartphone und Tablet verengt
Das Smartphone in Kombination mit starker Nutzung sozialer Medien habe das soziale Leben von Kindern und Jugendlichen grundsätzlich verändert, so Haidt und Rausch. Es erfolgte demnach seit Beginn der 2010er Jahre ein deutlicher Wechsel des Erfahrungsraums von Kindern und Jugendlichen.
Der Erfahrungsraum hat sich vermehrt auf das Smartphone und andere internetfähige Bildschirmgeräte wie Tablets verengt. Nun werden am Bildschirm Kontakte gepflegt und Spiele gespielt. Das spielerische Ausprobieren in der realen Welt wurde parallel dazu deutlich weniger. Oft stehen hingegen Smartphone oder Tablet im Mittelpunkt.
Kinder und Jugendliche sammeln damit weniger Erfahrungen mit der Natur und sitzen den ganzen Tag vor ihrem Bildschirm. So verpassen sie das breite Spektrum der Erfahrungen, die für eine gesunde Entwicklung notwendig sind. Ihr Gehirn wird auf ein Leben am Bildschirm eingestellt. Das tut ihnen nicht gut.
Überbehütet in der realen Welt, unterbehütet in der digitalen Welt
Dabei fiel dem US-Psychologen in seinen Forschungen ein Gegensatz im Grad der Sorgen auf, die sich Eltern machen. Viele Eltern sind im „echten“ Leben besorgt um ihre Kinder. Sie haben Angst, ob diese gut nach Hause kommen und helfen bei zahlreichen Aktivitäten ihrer Kinder mit, von der Hausübung bis zum Lösen von Konflikten mit anderen Kindern.
Gleichzeitig haben viele Eltern wenig Sorge, was das Internet betrifft. Würden Sie Ihrem Kind eine Reise zum Mars erlauben, mit dem Ziel, dort dauerhaft zu leben?, fragt der Autor. Die meisten Eltern würden dies verneinen. Man wisse bisher zu wenig über die Lebensbedingungen auf dem Mars, eine Reise sei definitiv zu unsicher, die Besiedelung des Mars erst recht.
Sein Kind auf den Mars lassen?
Über die Inhalte und die Mechanismen des Internets wissen die meisten Menschen nicht viel mehr als über den Mars. Dennoch lassen viele Bezugspersonen ihre Kinder allein im Internet, obwohl dies überfordernd sei und Unsicherheit erzeuge.
Rund um die Uhr mit der ganzen Welt verbunden zu sein und den Druck zu verspüren, sich auf Sozialen Medien zu präsentieren, erzeugt Stress, so die Autoren. Außerdem gibt es nur wenig gesetzliche Regulierungen, um Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen, die auf diesen Plattformen auftreten können.
„Kinder sind überbehütet in der realen Welt und unterbehütet in der virtuellen Welt“, schließt Jonathan Haidt aus diesem Gegensatz. Während Kinder in der realen Welt weniger Schutz und mehr Möglichkeit, sich unbeobachtet auszuprobieren brauchen würden, solle man sie in der digitalen Welt mehr schützen, begleiten und Inhalte auswählen, die sie dort konsumieren.
Vorschlag: Eigenes Smartphone ab 14, soziale Medien ab 16 Jahren
Untermauert mit Studien, stellt er fest: Es ist ein Problem des kollektiven Handelns. Weil alle es tun, verspürt auch jeder einzelne den Druck, sich in selbst zu fotografieren und in Sozialen Medien zu präsentieren, seine Likes zu überprüfen und ständig online zu sein. Dementsprechend sagen viele Jugendliche: „Ich will ja aufhören, aber ich kann nicht, weil alle anderen es auch tun.“ Also gehe es nur über kollektive Regeln und gemeinsame Anstrengung, etwas zu verändern.
Für seine Analyse hat der Autor Hunderte Studien durchforstet. Aus den Ergebnissen schlägt er vier Änderungen vor: eigenes Smartphone ab 14 Jahren, Zugang zu sozialen Medien ab 16 Jahren, smartphone-freie Schulen und die Förderung der spiele-basierten Kindheit mit freiem Spiel und Verantwortung in der realen Welt. Er nennt das „Bring childhood back to earth“ – „Bringen wir die Kindheit auf die Erde zurück“.
Bis zum Alter von 14 Jahren reiche für die Kommunikation ein einfaches Mobiltelefon ohne Internet und ohne Kamera mit der Möglichkeit, ohne Internet Textnachrichten zu senden. Erst Jugendliche in der Oberstufe sollten ein eigenes Smartphone besitzen und damit Internetzugang rund um die Uhr haben. Sie seien schlicht erst in diesem Alter reif und persönlich sowie sozial gefestigt für den Umgang mit permanentem Zugang ins Internet.
Suchtgefährdung und handyfreie Schulen
Von sozialen Medien gehe eine hohe Suchtgefährdung aus, daher sollten sie erst möglichst spät und mit entsprechender Reife genutzt werden. Mit 16 Jahren ist die verletzlichste Phase der Gehirnentwicklung abgeschlossen. Jugendliche könnten ab diesem Entwicklungsstadium besser mit sozialem Druck und algorithmisch ausgewählten Influencern umgehen.
Schulen sollten prinzipiell frei von persönlichen Gegenständen mit Internet-Zugang sein – seien dies Smartphones oder andere technische Geräte. So könnten sich die Schüler*innen aufeinander und auf ihre Lehrkräfte konzentrieren. Konsumfreie Schulen mache es allen Beteiligten leichter, auch die zuvor genannten Maßnahmen durchzuhalten. Wenn niemand in der Pause auf dem eigenen Handy wischt oder postet, ist das auch selbst leichter durchzuhalten.
Der vierte Vorschlag für eine „Kindheit zurück auf der Erde“ betrifft die Wichtigkeit von unbeaufsichtigtem freiem Spielen. Dies fördere kindliche Unabhängigkeit, Kommunikation und motorische Fähigkeiten. Durch unbeaufsichtigtes freies Spiel in der realen Welt entwickeln Kinder auf natürliche Weise soziale Kompetenz, überwinden Ängste und können zu selbstständigen jungen Erwachsenen heranwachsen.
Ein späterer Einstieg in die Online-Welt mit eigenem Smartphone, Sozialen Medien und Selfies könne so gestärkten Jugendlichen nicht mehr so viel anhaben.
Bei eigenen Handys ohne Internet hat Haidt auch in später Kindheit und jungem Jugendalter keine Bedenken, ebenso nicht bei Nutzung schulischer internetfähiger Geräte im Unterricht, sofern sie nur möglichst dosiert eingesetzt werden.
VIVID-Fachbibliothek
Das Buch „Generation Angst – Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“ kann in der Fachbibliothek von VIVID – Fachstelle für Suchtprävention entlehnt werden. Öffnungszeiten sind Montag bis Donnerstag von 9 bis 16 Uhr und Freitag von 9 bis 12 Uhr. Der Bibliothekskatalog ist online verfügbar. Versand ist innerhalb der Steiermark möglich.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beobachtet in einem Bericht den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen und dem exzessiven Konsum digitaler Medien mit Besorgnis.
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