„Ich kenne meine Mutter nur betrunken.“ „Es war einer der üblichen Tage, an denen mein Vater sich unbemerkt hat volllaufen lassen.“ Das sind Zitate aus dem Buch „Einsam! Leben unter Alkoholfahne“ (2024). Heute Erwachsene reflektieren darin ihr Aufwachsen als Kinder von alkoholkranken Eltern. Sie berichten von ihrer Sorge um die Eltern, aber auch von Angst, Scham und Verantwortung in zu jungen Jahren.
Sie erzählen von verzweifelten Versuchen in ihrer Kindheit und Jugend, ihre Eltern vom Trinken abzuhalten: „Neben den Versuchen, Alkohol wegzuschütten, ging ich im Alter von ungefähr 13 Jahren (…) manchmal auch dazu über, die angefangenen Gläser meiner Mutter selbst auszutrinken, damit sie nicht betrunkener wurde.“ „Jedes Jahr vor Heiligabend bat ich meine Eltern, wenigstens an diesem einen Abend nicht zu trinken, weil es, je später der Abend wurde und je höher der Pegel, immer zu lautstarken Diskussionen und sinnlosen Streitigkeiten kam, was jedes Jahr den bis dahin friedlichen und schönen Tag in Nullkommanichts versaute. (…) Aber dieser einfache Wunsch nach einem nüchternen Weihnachtsfest wurde mir in keinem Jahr erfüllt. (…) Mich hat es jedes Jahr ein Stück mehr enttäuscht und in meiner Überzeugung bestärkt, dass es nicht wichtig war, was ich fühlte, sagte oder wie es mir ging.“
Die heute Erwachsenen berichten über Belastungen, die Kinder und Jugendliche nicht haben sollten: „Wir Kinder waren ganz auf uns allein gestellt. Meine Kindheit war immer unsicher. Chaotisch.“ „Während meine Mutter im Entzug war, war ich allein mit meinem Vater und meiner Oma zuhause. Also verbrachte ich meine Zeit nach dem Abi – die Zeit, in der andere reisten und feierten – damit, meine betrunkene Oma vom Boden aufzulesen, die Nebenjobs meiner Mutter zu übernehmen, den Haushalt zu schmeißen und mich allein um die Uni zu kümmern – ohne Hilfe, Beratung oder Unterstützung meiner Familie.“
Immer präsent war der Geruch nach Alkohol: „Sie entschied sich, einen Entzug zu machen. Es hielt genau 18 Monate an, dann kam der Rückfall. (…) Da roch ich die Alkoholfahne, und mir kullerten Tränen übers Gesicht. Die Enttäuschung war unfassbar. Ich wusste, mein altes Leben ist zurück.“
Jedes zehnte Kind
Übermäßiger Alkoholkonsum in der Familie betrifft viele Kinder: Rund jedes zehnte Kind bzw. jede*r zehnte Jugendliche hat einen Elternteil mit einer Alkoholkrankheit.
Noch viel mehr, die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in Österreich, erleben von Bezugspersonen die missbräuchliche Verwendung von Alkohol. Wenn Papa, Mama oder sonstige enge Bezugspersonen zu viel Alkohol trinken, beeinträchtigt das die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie ihrem Wohlbefinden.
Große Unsicherheit bei betroffenen Kindern
Viele Kinder alkoholkranker Eltern leben in großer Unsicherheit. Sie wissen nicht, ob das Essen gerichtet, die Kleidung gewaschen, die Stimmung ihnen wohlgesonnen ist – oder ob der Vater oder die Mutter bereits getrunken hat und sie auf sich allein gestellt sind. Viele wollen nach außen verbergen, was in der Familie vorgeht. Sie kompensieren, was Verantwortung der Erwachsenen wäre.
Das Klima der Unsicherheit ist das Schwierigste für die Betroffenen, sagen Expert*innen in dem Buch. Kinder mit alkoholkranken Eltern müssen sich mehr Sorgen um den Zustand des Zuhauses und der Eltern machen, als ihnen guttut.
Quer durch alle sozialen Schichten
Laut einer Befragung des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2016 gibt es in Deutschland rund 3,8 Millionen Mütter und Väter mit mindestens einem minderjährigen Kind, deren Alkoholkonsum als riskant gilt. 6,6 Millionen Minderjährige haben demnach in Deutschland mindestens einen Elternteil, der riskant Alkohol konsumiert.
Tendenziell weisen ältere Eltern laut RKI häufiger einen riskanten Konsum auf als jüngere: Bei Vätern ab 50 ist demnach jeder Dritte betroffen. Ein weiterer spannender Zusammenhang fiel auf: 81 Prozent der Eltern mit riskantem Alkoholkonsum gehören der mittleren und höheren Bildungsgruppe an. Mit drei Prozent ist nur ein Bruchteil der betroffenen Elternteile arbeitslos.
VIVID-Fachbibliothek
Im Buch „Einsam! Kinder unter Alkoholfahne“ kommen Erwachsene zu Wort, deren Eltern alkoholkrank waren. Eingebettet sind die Fallgeschichten in verständlich aufbereitete Beiträge von Fachleuten wie einem Neurobiologen und einem Psychiater.
Das Buch ist in der Fachbibliothek von VIVID – Fachstelle für Suchtprävention erhältlich. Öffnungszeiten sind Montag bis Donnerstag von 9 bis 16 Uhr und Freitag von 9 bis 12 Uhr. Der Bibliothekskatalog ist online verfügbar. Versand ist innerhalb der Steiermark möglich.
Unterstützung für Pädagoginnen und Pädagogen
Für pädagogische Fachkräfte gibt es in der Steiermark zwei konkrete Hilfestellungen, wie sie Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien unterstützen können: einen Leitfaden und eine Weiterbildung.
Ein Leitfaden „Alkoholbelastung in der Familie?“ (extern) des Gesundheitsfonds Steiermark und der Drogenberatung Steiermark gibt Pädagoginnen und Pädagogen Hilfestellung zum Umgang mit Verdachtsfällen. Hintergrundwissen und konkrete mögliche Schritte regen zum Hinschauen und Handeln an.
VIVID – Fachstelle für Suchtprävention bietet für pädagogisches Fachpersonal die Weiterbildung „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ an. Darin geht es um Sensibilisierung und alltagstaugliche Auseinandersetzung sowie um Handlungsmöglichkeiten in der pädagogischen Praxis.
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